CINDERELLA STORY

„Nur noch zehn Minuten!“,
höre ich dich rufen.
Das Ticken der Armbanduhr… es ist 23:30.
Heute ist die Abschlussfeier. Mein Studium.
Ich sitze im Hausflur. Auf der Treppe.
Wartend. Deine Schuhe in der Hand.
Wartend. Die Armbanduhr beim Ticken belauschen.
Du weisst, das liegt mir nicht…
Warten.
Ich habe keine Zeit.
Zehn Minuten…
Wartend.

Ich drehe die Zeit zurück…
Wie heute war es der 15. September.
Der Herbst war früh. Es drohte zu regnen.
Ich studierte im 5. Semester. Architektur.
Du kamst aus der Aufnahmeprüfung. Design.
Du wirktest eingeschüchtert.
Es schwebten „echte Prinzessinnen“ an dir vorbei.
Dennoch bist du mir aufgefallen.
Die Zeit verging, sie verging schnell.
Und natürlich wurdest du angenommen.
Du bist nach Düsseldorf gezogen.
In die kleine Wohnung auf meiner Etage.
In die Lorettostraße.
Ich habe dir unsere Nachbarschaft vorgestellt,
die Universität, meine Bars.
Ich habe dich meinen Freunden vorgestellt,
meinen Eltern, meiner Familie.
Ich habe deinen Erzählungen zugehört.
Deinen Wünschen, deinen Hoffnungen.
Ich habe deinen Gesang gehört. Deine Musik.
Du hast meinen Erzählungen zugehört.
Meinen Wünschen, meinen Hoffnungen.
Die Zeit verging, sie verging schnell.
Du hast einen Job in einem Café gefunden.
In Friedrichstadt.
Ich habe dich zur Universität gebracht.
Und ich fi ng an, mich auf meine Abschlussprüfungen
vorzubereiten.

Jede Woche trugst du ein neues Parfum.
Es gab immer einen Hauch von Rosen.
Ich habe dir ein Buch geschenkt.
Du hast mir Kaffee geschenkt.
Und irgendwann… hast du mich geküsst.
Die Zeit verging, sie verging schnell.
Alles schien so einfach mit dir.
Kostenlos.
So neu und einzigartig.
Wir gingen ins Kino.
Wir tanzten.
Wir gingen zusammen einkaufen.
Du hast geweint.
Wir lachten.
Wir tranken. Wir tranken auch Kaffee.
Ab und zu hast du ohne Grund geschrien.
Manchmal hattest du einen Grund.
Ja…manchmal hattest du einen Grund.
Die Zeit verging, sie verging schnell.
Ich habe dich zur Universität gebracht.
Ich habe für meine Abschlussprüfungen gelernt.
Ich habe deinen Erzählungen zugehört.
Deinen Wünschen, deinen Hoffnungen.
Du hast meinen Gesang gehört. Meine Musik.
Wir waren uns nah.
So nah.
Die Zeit verging, sie verging schnell.
Ich habe für meine Abschlussprüfungen gelernt.
Dein neues Parfum… Rosen.
Wir waren im Kino.
Wir tanzten.
Wir haben Musik gehört.
Wir haben gelacht.
Ich habe für meine Abschlussprüfungen gelernt.
Du hast geschrien, ohne einen Grund.
Geschrien, mit einem Grund.

Die Zeit verging, sie verging schnell.
Ich habe dich nicht zur Universität gebracht.
Ich habe für meine Abschlussprüfungen gelernt.
Du hast meinen Erzählungen zugehört.
Meinen Wünschen, meinen Hoffnungen.
Ich habe für meine Abschlussprüfungen gelernt.
Meine Prüfungen… meine Prüfungen
… meine Prüfungen.
Sie verging schnell.
Wartend.
Ich sitze im Hausflur. Auf der Treppe.
Wartend. Deine Schuhe in der Hand.
Das Ticken meiner Armbanduhr. 00:00 Uhr.
Mitternacht.
Dreizig Minuten…
„Es tut mir leid. Wegen mir kommen wir zu spät! Lass
uns schnell los fahren. Wir haben keine Zeit!“,
sagst du unruhig.

Ich lausche dem Ticken der Armbanduhr nicht mehr.
Mein aufgeregtes Zittern,
als du die Treppe herunter kommst. Wunderschön.
Süßere Gänsehaut, als ich deinen Schuh
über deinen Zeh schiebe. Passt wie angegossen.
Ja. Die Zeit vergeht, sie vergeht schnell.
„Wir haben Zeit. Lass uns tanzen gehen.
Etwas anderes unternehmen“, sage ich.
„Tanzen? Aber deine Abschlussveranstaltung…“,
erwiderst du.
Die Abschlussveranstaltung. Mein Studium.
Ich lege die Armbanduhr ab.
Das Ticken ignorierend.
Geduld.

Sich Zeit nehmend. Zeit nehmen.
Für das, was wichtig ist.

 

- Jana Merkens

 

Illustration von Jui R. Oldenburg